Liebe Freundinnen und Freunde des Taijiquan!
In letzter Zeit höre ich oft Sätze wie »Hoffentlich wird alles wieder normal.«, »Ich wünsche mir die Normalität zurück.« oder »Wann können wir wieder ein normales Leben führen?« Auch mir kommt gelegentlich einer dieser Sätze über die Lippen, aber ich erschrecke dann und frage mich, was ist denn normal und wer entscheidet, ob etwas normal ist? Normalität scheint selbstverständlich zu sein, muss nicht erklärt werden, ist akzeptabel, sie ist erwünscht und gibt Sicherheit. Jede Zeit, Gesellschaft, Kultur und Glaubensrichtung hat ihre eigene Normalität, entwickelt aus den Erfahrungen im menschlichen Zusammenleben oder bestimmt durch Gesetzte und Dogmen. Doch ist sie nicht beständig, darf es nicht sein, denn das sogenannte Beständige nimmt uns unsere Lebendigkeit und lässt unsere Seele in einem goldenen Käfig verhungern.
Normalität ist vor allem Natürlichkeit, in der sich unser Wesen entfalten kann und die dem Andersdenken und Anderssein Raum gibt, um darin die Fülle und Vielfalt des Lebens zu erkennen. Und das fordert Verantwortung für sich selbst und andere. Normalität, die das Wesen und das Leben verstümmelt und verdinglicht, und die aus Gewinnstreben alles auf dem Altar des sogenannten Fortschritts opfert, ist nicht akzeptabel, ist abnorm. Wir lassen Leid und innere Verarmung zur Normalität werden. Wir verunstalten unser Wesen, wenn Unworte wie Fleischproduktion, Humankapital, Systemrelevanz wie selbstverständlich über unsere Lippen kommen. Die zunehmende Kultivierung der Gefühllosigkeit und der immer stärker in Erscheinung tretende Eigennutz verstümmeln unseren Geist und lassen unsere Kultur verkümmern.
Für mich ist Normalität die Liebe zur Schöpfung, erfüllt mit Dankbarkeit für die geschenkte Fülle und Vielseitigkeit. Beim Praktizieren des Taijiquan erfahre ich diese Natürlichkeit, in der sich alles gegenseitig bedingt und ineinanderfließt. Ich kann mich dem Wirken des Daos hingeben und komme meinem Wunsch nach innerem Frieden ein Stück näher.
Mögen Liebe und Frieden eure Herzen erfüllen!
Heinz Günter Saemann