Für mich ist die momentane Lebenssituation eine Yin-Phase.
Die Lebensenergie äußert sich in den polaren Kräften von Yin und Yang. Yin und Yang sind die Ur-Qualitäten der Dualität. Diese beiden Kräfte kann man als grundlegende Bewegung des Lebens verstehen, die Veränderung, Entwicklung und Prozesse hervorruft und in Gang bringt. Auch in der Natur, am Beispiel der Jahreszeiten, sehen wir diese beiden Qualitäten und wie sich das Leben in ihnen ausdrückt und zeigt. Ohne den Herbst, also das Loslassen, und den Winter, also das Sich-sinken-Lassen und Sich-ganz-Zurückziehen, kann es keinen Frühling und keinen Sommer geben. Nichts würde ohne diese beiden Energien wachsen und gedeihen können.
Im Taijiquan erfahre ich Yin als eine komprimierende, sinkende, loslassende und schließende Energie. Sie ist schwieriger zu praktizieren und auch zu lehren. Im Taijiquan wird auch deutlich am eigenen Körper erfahrbar, dass Yang nur funktioniert wenn ich Yin beherrsche.
Wenn wir Yang als Fülle bezeichnen würden, wäre Yin die Leere. Leere kann erstmal Angst machen. Unser erster Impuls ist, sie zu füllen. Mit irgendwas. Auf jeden Fall tätig werden. Leere an sich ist schwer auszuhalten. Sich in die Leere sinken zu lassen ist ebenfalls schwer. Wir sind Handeln gewöhnt. Pläne, Aktivität, Bewegung die nach außen gerichtet ist, das alles ist uns vertraut und gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. Dann haben wir es im Griff. Leere ist loslassen. Und darauf vertrauen, dass irgendwas trägt und uns entgegenkommt. Die momentane Situation zwingt uns in eine ruhigere, zurückgenommenere und kleinere Phase des Lebens. Eine Yin-Phase. Wir wissen nicht, wie lange sie dauern wird und wie viel leere Energie diese Phase hat.
Betrachten wir durch die Yin-Perspektive unser Leben, die Beziehungen, Handlungsmuster, Vorstellungen und Werte, uns selbst in dem von uns gestalteten Alltag, entdecken wir vielleicht viel Unsinniges, Erzwungenes, Unbedachtes und auch Ungewolltes. Viele dieser Dinge sind nun durch die äußeren Umstände weggefallen. Etwas wird leichter und bekommt Raum. Zentrale Fragen des Lebens tauchen auf, wir fangen an, das eine oder andere loszulassen, vermeintliche Wichtigkeiten werden nichtig, Handlungsweisen ändern sich. Wir haben Abstand zueinander, dafür aber vielleicht mehr Raum für unser Selbst. Auf Leere folgt immer Fülle und andersrum. Eine Gewissheit, auf die wir vertrauen können.
Wir können also diese Yin-Phase und die Yin-Perspektive nutzen für unser Selbst. Vielleicht wird es für den einen oder der anderen nur eine Erfahrung des Kontrollverlustes, der Angst und Einschränkung sein. Vielleicht wird dem einen oder der anderen bewusst, wie er oder sie in Ausnahmesituationen reagiert und was er oder sie fähig ist zu leisten. Vielleicht wird der eine oder die andere die Zeit als ein Geschenk betrachten. Ein Zeitgeschenk. Für das Wesentliche im Leben. Leerzeit um innezuhalten und zu schauen, was vielleicht auch noch wachsen will im Alltagsleben.
Ich kann die Yin-Energie in vielen Bewegungsabschnitten der Formen üben. Aber sie steht auch ganz am Anfang einer jeden Form. Ich stehe in Ruhe, und um überhaupt anfangen zu können, muss ich als erstes absinken. Ich muss loslassen, um in Bewegung zu kommen. Wie fühlt sich das an? Bis wohin sinke ich? Kann mein Geist innerlich mitsinken? Kann ich meine Energie mit der Bewegung sinken lassen? All das kann ich allein an diesem kurzen Bewegungsablauf üben. Ganz am Anfang.
Bewegung, Prozesse, Veränderungen entstehen durch die Kräfte von Yin und Yang. Die Yin-Energie ist die momentane Kraft, die wirkt. Das Taijiquan hilft mir besser, mit dieser Lebenssituation umgehen zu können. Besser verstehen zu können, was da gerade passiert und wie ich mich darin bewegen kann.
Im Zen-Buddhismus gibt es eine Weisheit die sehr gut passt:
Rühre an das Leere in deinem Leben,
und dort werden Blumen blühen.
Ich möchte euch Mut machen, die Yin-Energie zu erspüren und euch in die Leere sinken zu lassen. Sie ist so ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens und eine kraftvolle Energie, die wir selten deutlich wahrnehmen. Möge uns allen daraus Blumen blühen!
Seid herzlich gegrüßt!
Johanna Saemann
Beate Sareika
Liebe Johanna,
wie wunderschön du Dingen, dem Zustand, was auch immer Worte verleihst, die in mir als vorhanden erst dadurch bewusst werden, wenn du sie schreibst. Wie Harri, der Maschinen misstraut, vertraue ich schwer dem in mir vorhandenen noch nicht angeklungenem Ton.
Pragmatische Umärmelung
Beate
Julia
Liebe Johanna,
du bringst zum Ausdruck, was ich empfinde. Danke für das Formgeben 😘 und wer nicht lesen mag, dem erzählen die Bilder davon.
Vielen Dank!
Frank Hügle
Liebe Johanna,
vielen Dank für diese Worte, welche in vollkommener Weise ausdrücken, was gerade möglich sein könnte. Für jeden einzelnen. Mögen sich diese Worte in den Medien um die Welt verteilen, um möglichst viele erreichen zu können.